Büdingen (Hessen)

 https://de-academic.com/pictures/dewiki/75/Kreis_Salm%C3%BCnster.jpgWetteraukreis Karte Büdingen ist eine Kommune mit derzeit ca. 22.500 Einwohnern am östlichen Rand des Rhein-Main-Gebietes im Wetteraukreis ca. 25 Kilometer nordöstlich von Hanau gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: de-academic.com  und  Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis).

 

In Büdingen, das seit dem 13.Jahrhundert unter der Landesherrschaft derer von Ysenburg (auch: Isenburg) stand, wurde im Laufe der Jahrhunderte jeweils einzelnen jüdischen Familien gestattet, sich im Orte anzusiedeln. Als Gegenleistung mussten die Juden Schutzgeldzahlungen und ein jährliches Fron- und Wachgeld an die Landesherren entrichten. Der erste urkundliche Beleg über die Anwesenheit von Juden in Büdingen stammt aus dem Jahre 1330: In diesem Jahre verlieh der Wittelsbacher Kaiser Ludwig IV. dem Büdinger Herrn Luther von Ysenburg die Gnade, „in seiner Stadt Büdingen“ alljährlich einen fünf Tage dauernden Jahrmarkt und außerdem einen Wochenmarkt abzuhalten und auf seinem Territorium zwölf jüdische Familien anzusiedeln. Doch bereits 1337 wurden die Juden wieder aus Büdingen vertrieben. In den beiden folgenden Jahrhunderten fehlen urkundliche Hinweise auf die Anwesenheit von Juden in der Stadt. Erst in den Stadtrechnungen des 16.Jahrhunderts sind einzelne, in Büdingen wohnhafte jüdische Familien genannt. Gegen den Widerstand des Stadtrats setzte der Landesherr, Graf Wilhelm, die jüdische Ansiedlung durch und verbot allen Büdinger Bürgern, „seine“ Juden zu belästigen.

               Stadt Büdingen um 1615 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Ende des 18.Jahrhunderts gab es in Büdingen zehn Häuser in jüdischem Besitz. Der Erwerb von anderweitigem Grundbesitz wurde den Juden erst nach 1820 gestattet. Eine jüdische Gemeinde in Büdingen existierte ab ca. 1700, und bald nach ihrer Gründung richtete sie eine eigene Synagoge ein, die direkt an der Stadtmauer in einem kleinen Haus im Liebfraueneck in der Obergasse untergebracht war. Gottesdienste und der Schulunterricht wurden hier bis 1883 abgehalten, ehe dann in der Mühltorstraße ein neues Gemeindedomizil geschaffen wurde; im zu einer Synagoge umgebauten Gebäude fanden jeweils 60 Männer und Frauen Platz.

  Ehem. Synagogengebäude, Mühltorstraße (Aufn. Sammlung Büdinger Geschichtsverein)

Zur Erledigung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer in Anstellung, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war. Unter den Lehrern ist vor allem Naphtali Ottensoser zu nennen, der ein Handelslehrinstitut betrieb, das 1877 nach Mellrichstadt verlegt wurde (vgl. dazu: Mellrichstadt).

 

aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 13.Aug. 1855 und der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31.Jan. 1877

Verstorbene Gemeindemitglieder wurden zunächst in Birstein beigesetzt. Ein eigener Friedhof - am Ortsausgang an der Straße nach Wenings - wurde erst um 1840 angelegt. Ab ca. 1850 wurden auch die verstorbenen Juden aus Bindsachsen dort begraben. Der Friedhof beherbergt heute noch etwa 100 Gräber.

Die Gemeinde Büdingen, zu der auch die wenigen jüdischen Familien aus Lorbach zählten, gehörte zum liberalen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen.  

Juden in Büdingen:

         --- um 1330 .......................  12 jüdische Familien,

    --- 1727 ..........................   5   “         “    ,

    --- 1753 ..........................  13   “         “    ,

    --- 1809 ..........................  11   “         “    ,

    --- 1830 ..........................  60 Juden,

    --- 1839 .......................... 100   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1871 .......................... 119   “   (ca. 5% d. Bevölk.),

    --- 1885 .......................... 142   “  ,

    --- 1900/05 ....................... 146   “  ,

    --- 1910 .......................... 161   “  ,

    --- 1933 .......................... 141   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1938 ..........................   8   “  ,

    --- 1939 ..........................   keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hesse. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 56

 

Die meisten jüdischen Familien bestritten ihren Lebensunterhalt als Kaufleute, Viehhändler, Metzger und Bäcker.

  gewerbliche Kleinanzeige von 1901  http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20268/Buedingen%20Israelit%2005061901.jpg

Die liberal eingestellte Gemeinde nutzte ihre Synagoge nur bis 1936; zwei Jahre später - noch vor dem Novemberpogrom - wurde das Fachwerkgebäude verkauft, denn die Mehrzahl der jüdischen Bewohner hatte bereits in den ersten Jahren der NS-Herrschaft ihren Heimatort verlassen. Auslöser waren u.a. auch die Ende Mai 1935 erfolgten Sachbeschädigungen gewesen, die an Läden mehrerer jüdischer Kaufleute zu verzeichnen waren. Während etwa 70 Büdinger Juden in andere Städte Deutschlands, vor allem nach Frankfurt/M., verzogen, emigrierten die übrigen zumeist in überseeische Länder.

Über die regionalen Geschehnisse während des November-Pogroms berichtete der „Büdinger Allgemeine Kreisanzeiger” am 11.November 1938 unter „Verschiedenes“:                            

Büdingen, 11.November 1938

- Gestern brachen in Büdingen und seinem Kreisgebiet wie auch anderwärts judenfeindliche Kundgebungen aus, die als Vergeltungsmaßnahme für den durch feige jüdische Mörderhand ums Leben gekommenen deutschen Diplomaten vom Rath anzusehen sind. Daß in der letzten Zeit wieder ein besonders freches und herausforderndes Benehmen der Juden festzustellen war, soll, wie uns mitgeteilt wurde, auch in Büdingen und in den verschiedensten Dörfern des Kreises der Fall gewesen sein. Die Juden mußten zum größten Teil in Gewahrsam genommen werden, um sie vor der verständlichen Erregung der Volksmenge fern zu halten, ...

                    Über die „Vorfälle“ in Büdingen machte das Urteil des Landgerichts Gießen vom 6.1.1949 differenzierte Aussagen:

„ ... Zunächst wurden zahlreiche jüdische Einwohner von Büdingen von nicht mehr zu ermittelnden Tätern aus ihren Wohnungen geholt und in das Amtsgerichtsgefängnis gebracht. Am frühen Nachmittag rottete sich eine größere Menschenmenge zusammen, die durch die Straßen der Stadt zog und Gewalttätigkeiten beging. Während zahllose Neugierige von der Straße aus zusahen, drangen einzelne Haufen, zumeist aus Jugendlichen und Schulkindern bestehend, in die jüdischen Wohnungen ein, zertrümmerten die Möbel und andere Einrichtungsgegenstände, zerschlugen Fensterscheiben und Geschirr, schlitzten die Betten auf und warfen Möbelstücke, Wäsche und andere Dinge auf die Straße. Diese Umtriebe, die hin und wieder abebbten und später wieder von neuem aufflackerten, dauerten bis in die Abendstunden. ...”

 

1938/1939 lebten dann keine jüdischen Einwohner mehr am Ort.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 35 gebürtige bzw. länger in Büdingen wohnhaft gewesene Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/buedingen_synagoge.htm).

 

Nach Kriegsende ließen sich drei ortsfremde Juden in Büdingen nieder.

Datei:2016-11-30 Gedenktafel Büdinger Juden am hist. Rathaus.jpg 1988 brachte die Kommune Büdingen am historischen Rathaus eine Gedenktafel an (Abb. S.Teschke, 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0), die an das Schicksal der ehemaligen jüdischen Bürger erinnern soll. Der Inschriftentext lautet:

Den Toten zum Gedenken   den Lebenden zur Mahnung

Zur Erinnerung und zum Gedenken an unsere durch die nationalsozialistische Diktatur ihrer Existenzgrundlage beraubten verfolgten und ermordeten Mitbürger der Jüdischen Gemeinde in Büdingen

Wir trauern um das Leid aller Büdinger Juden

Mit einem 2019 errichteten neuen Mahnmal in der Altstadt (im Burgmannenhof) gedenkt die Kommune Büdingen der 149 ehemaligen jüdischen Bewohner, die vertrieben, verschleppt oder ermordet wurden; alle sind hier namentlich aufgeführt.

Auf der Gedenktafel heißt es:

Unseren ehemaligen jüdischen Mitbürgern

Jahrhunderte lebten und arbeiteten auch in Büdingen Deutsche jüdischen Glaubens.
Sie waren Ärzte, Kaufleute, Lehrer, Handwerker und Arbeiter und suchten wie wir das Glück.
Als 1933 Judenhass Programm einer deutschen Regierung wurde, lebten 149 jüdische Bürger in Büdingen. Ausgegrenzt, schikaniert, bedrängt, bedroht, ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt und ohne jede bürgerliche Sicherheit verließen sie Büdingen.
Wer nicht rechtzeitig auswandern konnte, wurde nach Auschwitz, Theresienstadt, Dachau, Minsk und Sobibor verschleppt und mit Millionen anderen getötet.

Wir verneigen uns vor den Opfern des Hasses und sehen das Leid, das Menschen einander zufügen.
Das Leid unserer jüdischen Mitbürger mahnt uns zu Brüderlichkeit, Toleranz und Frieden.
Ihr Schicksal ist uns immerwährende Verpflichtung, für die Würde und Freiheit aller Menschen einzutreten.

Künftig soll an der ehemaligen Synagoge in der Mühltorstraße eine Gedenktafel angebracht werden (Stand 2022).

In dem vom Büdinger Geschichtsverein eingerichteten Regionalmuseum, dem Heuson-Museum - es befindet sich im spätgotischen historischen Rathaus aus dem Jahre 1458 -, hat eine Dauerausstellung zur „Geschichte und Kultur der Juden in Büdingen und Umgebung” Platz gefunden.

Nach dem ehemaligen jüdischen Lehrer Max Halberstadt (geb. 1872 in Schupbach) ist seit 2009 der an der Grundschule gelegene Park benannt; eine Gedenktafel erinnert hier an ihn.

2008 wurde in Büdingen mit der Verlegung sog. „Stolpersteine“ begonnen; inzwischen findet man im Stadtgebiet insgesamt ca. 75 Steine, die an etwa 20 Standorten in die Gehwegpflasterung eingelassen sind (Stand 2022). Wenn das Projekt in den nächsten Jahren seinen Abschluss gefunden haben sollte, wird dann an alle 149 Angehörigen der ehemaligen jüdischen Gemeinde erinnert worden sein.


 „Stolpersteine“ für ehem.jüdische Bewohner Büdingens (Aufn. K. Ratzke, 2022, aus: commons.wikimedia.org CCO)

Der am nördlichen Ortsausgang befindliche jüdische Friedhof weist noch ca. 100 Grabstätten auf.

 

Jüdischer Friedhof in Büdingen (beide Aufn. J. Hahn, 2009)

 

Auch in anderen Ortsteilen Büdingens erinnern jeweils gleichlautende Gedenktafeln an die einstigen Synagogen, so in Düdelsheim, Eckartshausen, Unterpforte und in Büdingen-Rohrbach.

Der alte jüdische Friedhof in Düdelsheim soll bereits in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts angelegt worden sein; ein neues Begräbnisgelände entstand dann im 19.Jahrhundert. Der jüdische Friedhof in Eckartshausen war Begräbnisstätte für die jüdischen Gemeinden in Altwiedermus, Himbach und Langenbergheim.

[vgl.  Düdelsheim (Hessen)]

[vgl.  Eckartshausen (Hessen)]

[vgl.  Rohrbach (Hessen)]

 

Anmerkung: Im gleichnamigen lothringischen Büdingen (frz. Buding/Dep. Moselle) hat es ebenfalls eine jüdische Landgemeinde gegeben, die um 1900 einen erheblichen Teil der Dorfbevölkerung stellte. Ihre erste Synagoge soll die Dorfjudenschaft dort in den 1750er Jahren eingerichtet haben.

 

Weitere Informationen:

Max Halberstadt, Der alte Begräbnisplatz an der Ronneburg, in: Aus der Geschichte der Juden in der ehemaligen Grafschaft Büdingen, o.O. 1935

Rosy Bodenheimer, Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberhessen von ihrer frühesten Erwähnung bis zur Emanzipation, Dissertation Philosophische Fakultät der Universität Gießen, Gießen 1931, S. 43

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 96 f.

Büdinger Geschichtsverein (Hrg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Büdingen und Umgebung, Museumsinformation 5/1981 (ergänzte Aufl. 2007)

Klaus-Peter Decker, Der Streit um die Aufnahme des Juden Schmey in Büdingen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in der Grafschaft Ysenburg, in: "Büdinger Geschichtsblätter", Band 12, Büdingen 1984, S. 48 - 73

Thea Altaras, Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945 ?, Verlag K.R.Langewiesche Nachfolger Hans Köster, Königstein/T. 1988, S. 182/183

Hans-Velten Heuson, Max Halberstadt. Ein jüdischer Lehrer und Erzieher in Büdingen, in: "Büdinger Geschichtsblätter", Band 13, Büdingen 1988, S. 215 - 245

Rainer Heß, Unbewältigte Vergangenheit, in: Chronik Düdelsheim 792 – 1992 (Festschrift), Büdingen 1991

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS, Frankfurt/M. 1995, S. 314 f.

W.Luh/G.Lorenzen/M.Kingreen/W.Wagner/Chr. Wiesner (Bearb.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Büdingen (Beiträge), in: Büdinger Geschichtsverein (Hrg.), "Büdinger Geschichtsblätter. Historisches Nachrichtenblatt für den ehemaligen Kreis Büdingen", Band 17/2001, S. 25 ff.

Monica Kingreen, Spuren der während der NS-Zeit deportierten und ermordeten jüdischen Büdinger, in: Büdinger Geschichtsverein (Hrg.), "Büdinger Geschichtsblätter. Historisches Nachrichtenblatt für den ehemaligen Kreis Büdingen", Band 17/2001, S. 306 f.

Germania Judaica, Band III/3, Tübingen 2003, S. 1882/1883

Büdingen mit Lorbach, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Willi Luh, Zur Geschichte und Kultur der Juden in Büdingen - Sonderdruck, hrg. vom Büdinger Geschichstverein e.V., in: "Büdinger Geschichtsblätter", Bd. 17, Büdingen 2008

Heuson-Museum Büdingen (Hrg.), Dauerausstellung zur Geschichte der Büdinger Juden, online abrufbar unter: heuson-museum.de/index.php/de/zur-juedischen-geschichte

Heuson-Museum Büdingen (Hrg.), Zur Geschichte der Büdinger Synagogen, online abrufbar unter: heuson-museum.de/index.php/de/zur-juedischen-geschichte/in-buedingen-vor-1933/168-zur-geschichte-der-buedinger-synagogen

Gisela Lorenzen (Bearb.), Genisa-Fund im Hause Münz/Levi Büdingen, Altstadt 8, in: "Büdinger Geschichtsblätter", Band 24/2016

Siegfried Weiß (Bearb.), Der Handelsmann und Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Büdingen Heinemann Lismann und seine Nachkommen, in: "Büdinger Geschichtsblätter", 24/2016

Sonja Fouraté (Red.), Als Nachbarn Jagd auf Nachbarn machten, in: hessenschau.de vom 8.11.2018

Oliver Potengowski (Red.), Gedenkstätte für jüdische Mitbürger in der Büdinger Altstadt eingeweiht, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 10.11.2019

Heuson-Museum Büdingen (Hrg.), Stolpersteine in Büdingen, Düdelsheim und Eckartshausen (Stand 2019), online abrufbar unter: heuson-museum.de/ (Anm. mit Namenslisten und Verlegeorte)

N.N. (Red.), Stolpersteine: Arbeitsgruppe geplant, in: „Kreis-Anzeiger“ vom 5.1.2020

Auflistung der in Büdingen verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Büdingen

Petra Ihm-Fahle (Red.), Stadt verlegt 13 weitere Stolpersteine, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 26.7.2022

ten (Red.), Stolpersteine verlegt: Büdingen erinnert an ehemalige Mitbürger, die verfolgt wurden, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 15.9.2022